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Misstrauensvotum in Tschechien: Hintergründe und Ausblick

27. März 2009
Von Eva van de Rakt

Von Eva van de Rakt


Am 24. März 2009 wurde der tschechischen Regierung das Misstrauen ausgesprochen. Für den Antrag der oppositionellen Sozialdemokraten (ČSSD) stimmten 101 Abgeordnete, dagegen 96. Diese Nachricht verbreitete sich in den internationalen Medien wie ein Lauffeuer – verständlicherweise: Tschechien hat bis Ende Juni 2009 die EU-Ratspräsidentschaft inne.

Es ist nicht das erste Mal, dass ein Land während einer Ratspräsidentschaft von einer geschäftsführenden Regierung regiert wird. Es war auch nicht der erste, es war der fünfte Versuch der Opposition, in dieser Legislaturperiode (2006-2010) die Regierung aus ODS (Demokratische Bürgerpartei), KDU-ČSL (Christdemokraten) und der Partei der Grünen (SZ) zu stürzen. Aber es ist das erste Mal, dass die EU in Krisenzeiten von einer krisengeschüttelten Regierung geführt wird. Und das erste Mal in der Geschichte der Tschechischen Republik, dass ein Misstrauensvotum Erfolg hatte.

Politisches Tauziehen

Internationale Medien sprachen am Tag der Abstimmung teilweise davon, dass die globale Finanz- und Wirtschaftskrise den Sturz einer weiteren mittelosteuropäischen Regierung verursacht habe. Der Sturz des tschechischen Premiers hat damit allerdings reichlich wenig zu tun. Er ist vielmehr Resultat eines Tauziehens, eines Kampfes um Macht und Einfluss, der die politische Entwicklung des Landes seit Jahren lähmt.

Nach den Wahlen im Juni 2006 kam es im tschechischen Abgeordnetenhaus zu einer Pattsituation. Seitdem war jede Abstimmung ein Härtetest für die Regierung. Eine große Koalition kam aufgrund der Rivalität der Vorsitzenden der stärksten Parteien Mirek Topolánek (ODS) und Jiří Paroubek (ČSSD) nicht in Frage. Keine andere Koalition konnte aber eine Mehrheit auf sich vereinen. Die diese Woche gestürzte Regierung hatte nur 100 der 200 Mandate inne. Anfang 2007 überstand sie die Vertrauensfrage mit den Stimmen zweier sozialdemokratischer Abgeordneter, die daraufhin aus der Fraktion und Partei ausgeschlossen wurden.  
Seit 2007 dreht sich das Regieren in Tschechien vor allem darum, oppositionelle Abgeordnete davon zu überzeugen, für die Regierung zu stimmen – ohne dabei Abgeordneten aus den eigenen Reihen zu verlieren. Die Opposition unterließ keinen Versuch, die Regierung zu stürzen, war aber nie in der Lage, eine eigene Mehrheit zu bilden.

Rebellen bringen Regierung zu Fall

Am 24. März stimmten vier Abgeordnete der Koalition gegen die Regierung: Zwei Abgeordnete der ODS (Schwippel, Tlustý) und zwei Abgeordnete, die ursprünglich für die Grünen ins Parlament gewählt und Anfang März nach langen parteiinternen Konflikten aus der SZ ausgeschlossen wurden (Jakubková, Zubová). Schon im November 2008 traten Věra Jakubková und Olga Zubová aus der Fraktion aus, stimmten gegen Vorlagen der Regierung und versuchten, an den Gremien der SZ vorbei ihre eigene Politik zu machen.    

Auch die Reihen der ODS und ČSSD haben sich gelichtet: Bisher wurden drei ODS-Abgeordnete aus der Fraktion ausgeschlossen, bei den Abgeordneten Schwippel und Tlustý ist ein Parteiausschluss geplant. Vier sozialdemokratische Abgeordnete sind nicht mehr Mitglied der Fraktion und Partei, einer von ihnen legte im Dezember 2008 sein Mandat nieder.

Die Gründe der 101 Abgeordneten, die für das Misstrauensvotum stimmten, könnten unterschiedlicher nicht sein: Einigen war die Regierung zu europafeindlich, einigen zu europafreundlich. Tlustý und Schwippel machten schon mehrere Monate keinen Hehl daraus, dass ihnen die Ratifizierung des Lissabonner Vertrags und die Kompromisse Topoláneks gegen den Strich gehen. Věra Jakubková und Olga Zubová gaben bekannt, dass sie nicht bereit seien, dem Vize-Premier und Parteivorsitzenden der SZ Martin Bursík das Vertrauen auszusprechen.

Sieger und Verlierer

Derzeit streitet man darüber, wer die Schuld an dem Chaos trägt, in dem sich das Land befindet. Die Opposition verweist in diesem Kontext auf die Unfähigkeit der Regierungskoalition konstruktiv zu regieren. Die Regierungskoalition betont wiederum die Verantwortungslosigkeit der Opposition, in Krisenzeiten und während der eigenen EU-Ratspräsidentschaft die Regierung zu stürzen.

Man wird den Eindruck nicht los, dass die Sozialdemokraten vom Erfolg des Misstrauensvotums überrascht wurden. Wie sich die Opposition nach dem Votum verhielt, war bizarr: Sie forderte einen späteren Wahltermin für eventuelle Neuwahlen als die abdankende Regierung. Zudem erklärte sie, die gestürzte Regierung könne ja problemlos die EU-Ratspräsidentschaft zu Ende bringen. Bis zu den Neuwahlen solle eine sogenannte Beamtenregierung eingesetzt werden.
Der Sturz der Regierung wird den Sozialdemokraten wohl kaum mehr Stimmen verschaffen. Viele Wählerinnen und Wähler werden darüber verärgert sein, dass die Opposition dem internationalen Ansehen der Tschechischen Republik geschadet hat. Der ehemalige Parteivorsitzende der ČSSD und frühere Premier Miloš Zeman erklärte, er verurteile diesen Schritt und könne nicht verstehen, warum die Sozialdemokraten mitten während der „überdurchschnittlich gut“ verlaufenden Ratspräsidentschaft die Regierung zu Fall brachten.

Wie weiter?

Schaut man hinter die Kulissen, wird schnell klar, dass der eigentliche Gewinner Staatspräsident Klaus ist. Klaus, ehemaliger Ehrenvorsitzender der ODS, hatte die Regierung wiederholt kritisiert. Topolánek erklärte, dass seiner Meinung nach auch Václav Klaus und der Prager Oberbürgermeisters Pavel Bém an dem Sturz der Regierung beteiligt gewesen seien. Diese Politiker sind innerparteiliche Gegner Topoláneks und haben ein Interesse daran, ihn innerhalb der ODS zu schwächen.

Die Verfassung sieht vor, dass nun Václav Klaus entscheidet, wie es mit dem Land politisch weitergeht. Der Premier gab am 26. März den Rücktritt des Kabinetts bekannt. Der Präsident kann entscheiden, wen er mit der Regierungsbildung beauftragen wird. Er ist dabei nicht an zeitliche Fristen gebunden. Eine vom Präsidenten neu ernannte Regierung muss sich innerhalb von 30 Tagen der Vertrauensfrage stellen. Sollte sie daran scheitern, muss der Präsident erneut jemanden mit der Regierungsbildung beauftragen. Scheitert auch dieser zweite Versuch, muss der Präsident des Abgeordnetenhauses dem Staatspräsidenten einen Vorschlag unterbreiten, wer mit der Regierungsbildung beauftragt werden soll. Wenn auch dieser dritte Versuch missglückt, kann der Präsident das Abgeordnetenhaus auflösen.

Klaus nannte für den Regierungsbildungsprozess am 26. März drei Bedingungen: Er würde Topolánek aber auch jeden anderen Politiker mit der Regierungsbildung beauftragen, wenn er eine Mehrheit von 101 Abgeordneten hinter sich wisse. Eine neue Regierung müsse schnell zusammengestellt werden. Die Regierungsbildung solle außerdem auf einer politischen Einigung im Abgeordnetenhaus basieren. Diese von ihm genannten Bedingungen sind derzeit nur schwer zu erfüllen. 
Václav Klaus wird in den nächsten Wochen und Monaten versuchen, seine politischen Überzeugungen durchzusetzen. Dadurch könnte auch der Vertrag von Lissabon in Gefahr geraten, der vom tschechischen Senat noch nicht ratifiziert wurde.

Internationale Konsequenzen

Auf internationaler Ebene stellt der Regierungssturz einen harten Schlag für die EU dar, da die EU-Ratspräsidentschaft aus politischer Sicht geschwächt wird. Viele Ereignisse stehen an: Der G20-Gipfel in London, der EU-USA-Gipfel Anfang April in Prag, der Gipfel zur Östlichen Partnerschaft Anfang Mai sowie der Weltklimagipfel im Dezember in Kopenhagen. Eine angeschlagene Ratspräsidentschaft schwächt hierbei die Verhandlungsposition der EU. Die Europäische Kommission gab zwar gleich nach der Abstimmung bekannt, sie sei davon überzeugt, dass die Tschechische Republik weiterhin einen effektiven Ablauf der Ratspräsidentschaft sicherstellen werde. Diejenigen, die für den Erfolg des Misstrauensvotums verantwortlich sind, haben der tschechischen Ratspräsidentschaft ihren Slogan "Wir versüßen Europa" allerdings kräftig versalzen.


Die Partei der Grünen (SZ)

Die Grünen hat die Regierungsbeteiligung viel Kraft und Energie gekostet. 2006 wurden sie zum ersten Mal ins Abgeordnetenhaus gewählt. Nach sieben Monaten harter Verhandlungen übernahmen sie Regierungsverantwortung. Mit nur sechs Abgeordneten stellten sie vier Minister. Allerdings kam es wenig später zu parteiinternen Auseinandersetzungen. Nach monatelangen Konflikten im Vorstand und der Fraktion, die auch in den Medien ausgetragen wurden, entschieden sich die Gremien der Partei zu einem radikalen Schritt: Anfang März 2009 wurden vier Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen. Bei den Auseinandersetzungen ging es kaum um Inhalte, sondern vorrangig um persönliche Rivalitäten. Dies erschwerte ein konstruktives Mitregieren und schadete dem Ansehen der Grünen als neuer politischer Kraft.
Die Abgeordnete Olga Zubová ist mittlerweile Vorstandsmitglied der soeben neu gegründeten "Demokratische Partei der Grünen". 20 Jahre nach dem politischen Umbruch in Mittel- und Osteuropa und dem Fall der Berliner Mauer wirkt diese Parteibezeichnung befremdlich. Die Gründung dieser Partei wurde seit Monaten vorbereitet, und ihr Ziel scheint vor allem zu sein, der SZ zu schaden.

Die vier von der SZ gestellten Minister (Außen-, Umwelt-, Bildungsminister sowie Minister für Menschenrechte und Minderheiten) haben auch nach Einschätzung vieler Nichtregierungsorganisationen gute Arbeit geleistet. Leider haben es die Grünen bisher nicht vermocht, ihre Erfolge einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln – zu sehr standen in den letzten Monaten die parteiinternen Konflikte im Vordergrund der Medienberichterstattung. Dennoch haben Umfragen wiederholt gezeigt, dass das Wählerpotenzial der Grünen deutlich größer als ihre Kernwählerschaft ist. Sowohl bei den EP-Wahlen als auch bei eventuell vorgezogenen Neuwahlen sind die Grünen darauf angewiesen, diese potentiellen Wählerinnen und Wähler zu aktivieren. In den verbleibenden Wochen vor den EP-Wahlen müssen die Grünen die Botschaft vermitteln, dass sie nach wie vor eine Alternative darstellen, für die es sich lohnt zu stimmen.  

Man kann für Tschechien nur hoffen, dass die SZ bei den Europawahlen und bei eventuellen Neuwahlen erfolgreich sein wird. Die Tschechische Republik braucht dringend eine grüne politische Kraft. Man kann den tschechischen Grünen nur wünschen, dass sie in Zukunft parteiinterne Konflikte zu Gunsten der inhaltlichen Profilierung der SZ überwinden und das Potenzial, das sie als grüne Partei in Tschechien haben, ausschöpfen.


Eva van de Rakt ist Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Prag